IRAK…Regierungskrise ohne Ende, Terroristen auf dem Vormarsch – zerfällt das Zweistromland?


Warum sind die IS-Terroristen im Irak so erfolgreich?
Der Irak wird erschüttert, mal wieder. Diesmal sind es sunnitische Fanatiker der so genannten IS-Milizen, die weite Flächen überrennen und ein Schreckensregime zu etablieren versuchen. Ein Drittel des Iraks ist von ihnen besetzt, mehr als eine Million Iraker sind auf der Flucht, Zehntausende Yeziden (Kurden mit einem besonderen Glauben) in den Sinjar-Bergen und Christen aus der Niniveh-Ebene sind von Massakern bedroht. Die Gruppe „Islamischer Staat“ hat ihre Ursprünge im militärischen Widerstand gegen die Besetzung des Iraks durch US-Soldaten und andere Verbündete im Jahr 2003. Die Radikal-Fundamentalisten sehnen sich eine Gesellschaftsordnung herbei, wie sie zu Zeiten des Propheten Muhammad vor 1400 Jahren in Mekka und Medina geherrscht hat. Zuerst sah IS sich als Untergruppe der Terrororganisation al-Qaida von Usama Bin Laden, trat aber dann brutaler und rücksichtsloser auf. Al-Qaida geht es oft ums Prinzip, IS will die Macht. Die Gruppe wird durch Spenden aus Qatar und Saudi-Arabien finanziert und hat durch seine Feldzüge in Syrien und im Irak massenweise Geld erobert: Banken, Fabriken, ganze Stadtteile wurden geplündert. Waffen in Kasernen wurden requiriert, Drogen verkauft und archäologische Fundstücke auf dem internationalen Kunstmarkt verhökert. IS hat aber derzeit im Irak vor allem deshalb so viel Erfolg, weil die Gruppe von den Sunniten des Landes derzeit unterstützt wird. Nicht, weil diese die religiösen und politischen Ziele teilen – sondern weil sie sich von der schiitischen Zentralregierung benachteiligt sehen und ihr einen Denkzettel verpassen wollen.

Wird ein islamischer Gottesstaat entstehen?
Solch ein Kalifat hätte IS wohl gern, am liebsten über mehre bisherige Staaten hinweg. Aber dieser wird immer Fiktion bleiben. Nicht einmal kleine Gegenden des Iraks oder Syrien werden dauerhaft zu „Gottesstaaten“. Zum einen beruht der derzeitige Erfolg auf Waffen, und mit Gewalt kann man zwar eine Bevölkerung in Zeiten des Krieges regieren. Aber jeder Krieg ermüdet irgendwann. IS kann schießen, aber nicht verwalten. Wie einst die Mongolen werden sie Gebiete weiterhin überrennen, bis sie herausgeschmissen oder ihrerseits überrannt werden. Ihre Erfolge sind Luftschlösser. Derzeit wird IS in einem innerirakischen Machtkampf als Schachfigur gebraucht. Der einstige Bauer hat sich nun selbstständig gemacht. Aber das heißt nicht, dass er sich mit Erfolg zum König erklären kann.

Was sind die großen Konfliktlinien?
Der Irak an sich ist ein Kunstprodukt, geschaffen von den Briten in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts. Drei ehemalige Provinzen des Osmanischen Reiches fassten die neuen Mandatsherren zusammen: Die sunnitisch-kurdischen im Norden, die sunnitisch-arabischen im Zentrum und die schiitisch-arabischen im Süden. Bis heute kämpfen diese Regionen um Einfluss und um politisches Überleben, Religion spielt eigentlich eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist die Frage, wer die ölreichen Gebiete im Norden und im Süden kontrolliert.

Warum können die Iraker sich nicht auf einen Ministerpräsidenten einigen?
Auch die einzelnen Konfessionen unter sich sind zerstritten. Seit Jahren regiert der Schiit Nuri al-Maliki als Ministerpräsident, geduldet von den Amerikanern; sie hoffen, dadurch eine Art parlamentarisches System entstehen zu lassen. Doch Maliki hat sich als Despot erwiesen. Nur seine persönliche Machtstellung ist Antrieb seiner Politik, und er geht zunehmend ungeschickter vor. Die Sunniten, in den Jahrzehnten der Baath-Herrschaft unter Saddam Hussein die dominierende politische Kraft, wurden von Maliki kaltgestellt. Alle Pfründe sollen an ihnen vorbeigehen. Auf diese Marginalisierungen haben sie nun mit der Unterstützung des IS reagiert. Derzeit verfügt Maliki über die größte Fraktion im irakischen Parlament, kann aber keine Mehrheit hinter sich versammeln. Der neue gemäßigte Präsident Fuad Ma’sum hat jetzt den schiitischen Politiker Haidar al-Abadi als neuen Premierminister vorgeschlagen. Al-Abadi ist früherer Parteigänger al-Malikis. Er gilt als integrer, hat aber weniger Macht als Maliki, der zahlreiche Milizen unter sein Kommando gestellt hat.

Wird das Land zerfallen?
Derzeit parzelliert sich der Irak in ein Schachbrett. In jedem Feld hat eine andere Gruppe das Sagen. Straßensperren allerorten. Aber dennoch droht kein Zerfall. Der ist zu oft herbei geredet worden, ohne dass er geschah. Zwar ist der Irak nicht natürlich entstanden, aber dennoch gibt es mittlerweile eine Art irakisches Nationalbewusstsein – und die Einsicht, gemeinsam die wirtschaftlichen Probleme besser bewältigen zu können. Die Wirren dieser Tage werden bald der Vergangenheit angehören, ein neuer Ministerpräsident wird Schiiten und Sunniten miteinander versöhnen, die Kontrolle des Öls auf eine breite Ebene stellen und dem Irak ein föderaleres Gesicht verleihen: Die Zukunft des Landes liegt in relativ unabhängigen Provinzen, die auf zentraler Ebene miteinander kooperieren – wie zum Beispiel die Schweiz.

Sollen die Amerikaner eingreifen?
Was die USA bisher im Irak anrührten, verdorrte. Sie sind verhasst. Jahrelanges Leid haben sie mit dem von ihnen ersonnenen und durchgezogenen Krieg über die Iraker gebracht. Einen Mittler können sie nun nicht mehr abgeben. Zwar fordern einige irakische Politiker, die USA sollten in der jetzigen Situation das tun, was sie am besten können: nämlich von oben herab bombardieren, diesmal aber die Stellungen von IS. Wenn es aber zu einem militärischen Showdown mit der IS und den anderen irakischen Gruppen kommen sollte, wäre eine andere regionale Unterstützung nachhaltiger; Luftangriffe könnten auch die Türkei oder der Iran auf IS fliegen.

Ist das Engagement des Westens im Irak gescheitert?
Ja. Mehr lässt sich nicht hinzufügen.

Wer ist der Verlierer im jetzigen Konflikt?
Das einfache Volk zahlt die Zeche dafür, dass die Mächtigeren sich nicht einigen können. Es leidet unter den islamischen Experimenten des IS und den Kämpfen allerorten. Der Irak könnte kraft seiner Ressourcen und der gut gebildeten Bevölkerung einen gewissen Wohlstand erwirtschaften. Doch man müsste ihn machen lassen.

Könnte daraus ein Flächenbrand für die gesamte Region entstehen?
IS zelebriert gerade einen Flächenbrand im Irak und in Syrien, aber das ist auch das einzige, was die Terroristen können. Ein Staat ist mit ihnen nicht zu machen. Jede Marionette wird irgendwann beiseite gelegt. Und die Interessenlagen und Konfliktlinien sind im Nahen und Mittleren Osten zu komplex, als dass die jetzige Krise im Irak über seine Grenzen treten könnte. Seit Jahren wird orakelt, ein großer Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten werde die gesamte Region des Orients durchziehen, eine Art Endkampf werde aufziehen. Dies ist Quatsch. Lokal gibt es diese Konflikte durchaus, aber sie werden es bleiben. Schon allein, weil es keine zentralen Führerfiguren gibt, die länderübergreifend wirken könnten. So wird dieser „Endkampf“ genauso unrealistisch sein wie der vor vielen Jahren von Samuel Huntington erwartete „Kampf der Kulturen“.

Wie kann Frieden einkehren?
Zuerst einmal braucht der Irak eine Regierung, die nicht sofort stürzt. Maliki als ein Versager im Sinne des Volkes sollte einem Kabinett nicht mehr angehören. Dann sollte ein runder Tisch aller Volksgruppen die Interessen bündeln und einen gemeinsamen Nenner formulieren. Auf dieser Regierungsgrundlage ließe sich ein Staat bauen. Denn den wollen die Iraker schon, natürlich. IS wird dann schnell der Vergangenheit angehören, auch wenn es bis zu ihrem Niedergang noch zu grausamen Kämpfen kommen sollte. Der Westen sollte die Türkei und den Iran als regionale Akteure akzeptieren – auch wenn ihre Interessen sehr egoistisch sind. Früher wetteiferte der Irak um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten, heute ringt er um sein eigenes politisches Überleben. Das sollte ihm gegönnt sein, und es wird ihm gelingen.

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