“Das schwarze Schaf der Familie”

Es stellen sich viele Fragen. Wer ist Emrah E., der Anrufer, der das deutsche Innenministerium in bislang beispiellose Terrorangst versetzte? Woher wusste der Islamist von der marokkanischen Al-Qaida-Zelle in Düsseldorf? ” Es ist die Geschichte des jungen Emrah E., der aus Wuppertal auszog, um ein Krieger Gottes zu werden.

Die Geschichte von Emrah E. beginnt in der osttürkischen Provinz Bingöl. Dort kommt der gebürtige Kurde 1988 zur Welt. Als Emrah zwei Jahre alt war, zieht die Familie nach Deutschland. Der Großvater war in den 70-er Jahren bereits als Gastarbeiter nach Bayern gekommen, zog dann nach Wuppertal. Im Stadtteil Vohwinkel begann für die Familie, ein neues Leben.

Emrah wuchs mit vier Geschwistern auf, zwei Schwestern und den beiden jüngeren Brüdern Bünyamin und Yusuf. “Also bin ich genau in der Mitte und so das schwarze Schaf der Familie”, schrieb Emrah vor drei Jahren über sich im Internet. Seine Teenagerzeit war geprägt von Kriminalität. “Ich habe viel Schlechtes gemacht, alles was sich ein Mensch vorstellen kann”, erinnert er sich, “Eine Anzeige kam nach der anderen.”

Freunde redeten gern über den Dschihad

Er habe sich nur noch für Schlägereien, Drogen und Diskotheken interessiert, wollte möglichst schnell möglichst viel Geld verdienen. Die Eltern sorgen sich um ihren ältesten Sohn. Damit sie Disziplin und Arbeit kennen lernen sollten, schickte der Vater Emrah und seinen kleinen Bruder Bünyamin zum Arbeiten auf einen Bauernhof in Velbert, unweit von Wuppertal.

Beim Bauer Bleckmann halfen die kurdischen Brüder in den Ferien, Schafe zu schlachten. “Bünyamin war ein ruhiger, höflicher und netter Junge”, berichtet Bleckmann, Emrah hingegen sei oft aggressiv und aufbrausend gewesen. “Er war das Gegenteil von Bünyamin”, so der Schaf-Züchter, “er konnte Arbeit gut übersehen, war verträumt.”

Als seine älteste Schwester einen angehenden Prediger heiratete, folgte Emrah dem frommen Schwager zur Studienreise nach Pakistan. Der Aufenthalt in einem islamischen Land sollte den jugendlichen Straftäter zur Besinnung bringen, so hofften die Eltern. “Mein Vater wollte, dass ich von der schiefen Bahn wegkomme”, erzählt Emrah, “er schickte mich nach Pakistan auf eine Koranschule.” Hier traf der Teenager aus Wuppertal auf eine internationale Truppe von Muslimen aus den USA, Großbritannien, Australien, Tansania, Somalia und Tschetschenien.

“Mein Schwager hatte Angst, dass ich nach Afghanistan fahren würde, weil ich einige Freunde hatte, die gerne über den Dschihad redeten”, so Emrah.

Als er wieder zu Hause in Wuppertal war, verflog das religiöse Erweckungserlebnis aus Pakistan schnell: “Nach drei Monaten war ich wieder der Alte”. Emrah kümmerte sich weder um Schule noch um eine Ausbildung, hatte keine Arbeit und kaum Geld.

Der Vater hatte irgendwann genug. Er setzte seinen ältesten Sohn vor die Tür. Einen Monat lang lebte Emrah auf der Straße, beging weiter Überfälle. “Eine Pistole und in zehn Minuten war alles klar”, erinnert sich der Deutsch-Türke. “Mal kamen 15, mal 20 bis 30 oder hundert Euro.” Als Straftäter zu sterben und die Aussicht, von Gott bestraft zu werden, quälten ihn jedoch zunehmend: “Ich dachte mir “Ey, was ist mit Allah? Was tust du da?”

Im Alter von 17 Jahren wurde Emrah E. das erste Mal wegen “schwerer räuberischer Erpressung” festgenommen. Er erhielt eine Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten, wurde aber aufgrund eines sozialpädagogischen Gutachtens frühzeitig entlassen. Noch im Gefängnis habe er gebetet, so Emrah: “Oh Allah, wenn du mich hier rausholst, werde ich dir dienen und ein guter Diener sein.” Wieder in Freiheit war das religiöse Versprechen nur von kurzer Dauer. Emrah wurde erneut kriminell.

Am 6. September 2007 verurteilte ein Gericht Emrah E. zu einer zweiten Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Zelle Nr. 347, sieben Quadratmeter groß, mit grün gestrichenen Wänden, im vierten Stock der Haftanstalt Siegburg wurde Emrahs Zuhause. Hier vollzog sich die Wandlung zum tiefgläubigen Muslim. Er betete viel, las oft ganze Nächte lang religiöse Schriften. “Ich bekam inneren Frieden und fühlte mich gut”, sagt Emrah über die Zeit, “Ich lebte unter dem Schatten des Koran. Das war mein Motto.”

Wandel zum religiösen Eiferer

Wieder beantragte Emrah eine frühzeitige Haftentlassung und kam im Sommer 2008 frei. Keinen Tag seiner zweiten Haft bereue er, sagt Emrah später, er sei dort “zum Mann geworden”. Der Wandel hin zum religiösen Eiferer wurde nun für jedermann sichtbar. Sowohl Emrah als auch sein drei Jahre jüngerer Bruder Bünyamin trugen von nun an islamische Kleidung und Gebetsmützen. Sie engagierten sich in der Moscheegemeinde der “Schabab an-Nur Moschee” in Wuppertal, hörten die Predigen des salafistischen Imams Abu Jibril.

Im Frühjahr 2010 war Emrah urplötzlich verschwunden. Aus dem Umfeld der Familie wurde bekannt, dass er sich offenbar nach Ägypten in eine Sprachschule absetzte und dann weiter nach Pakistan reiste. Diesmal zog Emrah nicht – wie noch in Teenager-Tagen – zum Studium in eine Koranschule. “Emo”, wie ihn Eltern und Geschwister nannten, wollte in den Dschihad ziehen und gegen Ungläubige kämpfen. Er schloss sich der “Islamischen Bewegung Usbekistans” (IBU) an, einer Terrorgruppe, in deren Reihen schon mehrere Islamisten aus Deutschland kämpften.

Der kleiner Bruder Bünyamin, genannt “Büno”, fühlte sich angespornt durch Emrahs Ausreise in den Dschihad. Im Spätsommer 2010 reiste Bünyamin ebenfalls nach Pakistan. In den Terrorlagern Waziristans machten “Büno” und “Emo” nun gemeinsam Dschihad-Karriere. Bünyamin nannte sich fortan “Imran der Deutsche”, Emrah gab sich den Kampfnamen “Salahuddin al-Kurdi”.

“Meine Kinder kämpfen gegen Amerika”

Zu Hause in Wuppertal wusste die Familie offenbar vom Treiben des islamistischen Bruderpaares in Pakistan. “Meine Kinder kämpfen gegen Amerika”, soll der Vater stolz im Bekanntenkreis geprahlt haben.

Zur Familie hielten Bünyamin und Emrah auch aus dem Terrorcamp weiterhin Kontakt, oft auch per Telefon. Mitte September 2010 etwa. Da rief Emrah den daheimgebliebenen Bruder Yusuf in Wuppertal an und drängte ihn, Geld zu schicken. Notfalls müsse Yusuf mit einer Spielzeugpistole einen Supermarkt überfallen, sagte Emrah, Hauptsache, es komme bald Geld.

Am Stadtrand der Ortschaft Mir Ali in der Region Nord-Waziristan mietete sich Emrah zu dieser Zeit mit seiner Ehefrau, einer Deutsch-Marokkanerin aus Köln, und dem gemeinsamen Kind in einem Gehöft ein. Am 4. Oktober 2010 empfing er dort einige Glaubensbrüder zum Abendessen. Die Runde bestand aus seinem Bruder Bünyamin, der erst vier Wochen zuvor in Waziristan angekommen war, dem Hamburger Shahab D. alias “Abu Askar” und fünf pakistanischen Taliban-Kämpfern. Sie alle saßen im Innenhof, “in meinem Garten”, wie Emrah später berichten wird.

Tage später schilderte Emrah den Eltern im heimischen Wuppertal-Vohwinkel per Telefon, was in jener Nacht geschah: Für einen kurzen Augenblick habe er das Haus verlassen, berichtete der Islamist. Dies rettete ihm offensichtlich das Leben. Kurz darauf schlugen die Raketen ein. Eine US-Drohne hoch am Nachthimmel über Waziristan hatte sie abgefeuert. Er habe einen lauten Knall gehört, erzählt Emrah, dann habe er die zerstörte Lehmhütte gesehen.

In den Trümmern des Hauses starben fünf Islamisten. Emrah fand den Hamburger Shabab D. (27) mit einem abgerissenen Bein. Der Islamist lag bereits im Sterben. Der kleine Bruder Bünyamin (20) war auf der Stelle tot. Sein Kopf war von einem Raketen-Splitter zerfetzt worden.

Anschlagsplan für Deutschland?

Bünyamins Tod erschütterte Emrah tief, vielleicht so tief, dass er genug hatte vom Leben als Gotteskrieger. Das jedenfalls behauptete Emrah, als er Anfang November 2010 überraschend aus Mir Ali beim BKA in Deutschland anrief. Er wolle nichts mehr mit Terrorismus zu tun haben, erzählte er, wolle aussteigen und brauche Hilfe von den deutschen Behörden.

Im Gegenzug bot er wertvolles Insiderwissen: Al-Qaida habe einen Anschlagsplan für Deutschland, der kurz vor der Umsetzung stehe, tönte der Islamist. Nordafrikaner seien von al-Qaida ausgebildet und in die Bundesrepublik entsandt worden. Weitere Attentäter würden bald nachfolgen.

Emrah E. erzählte, es existiere eine “marokkanische Zelle” in Deutschland. Diese warte nur noch auf den Befehl eines Al-Qaida-Mannes aus Pakistan, um mit selbstgebauten Bomben, die per Handy gezündet würden, loszuschlagen. Das “deutsche Parlament” sei eines der Ziele.

Im Gegenzug für seine detaillierten Informationen und weitere Aussagen verlangte Emrah E. nicht gerade wenig von den deutschen Behörden. Sicherheit für seine Familie müsse gewährleistet werden, außerdem wolle er in die Türkei ausgeflogen werden. Und Geld verlangte Emrah, viel Geld. Über 100.000 Euro sollten die Ermittler für seine Aussagen zahlen.

Hinweise von der CIA

Beim BKA wurde man stutzig. Ist der Anrufer aus Waziristan ein echter Insider oder nur ein Schwätzer? Will der islamistische Fanatiker ernsthaft aussteigen? Wie weit ist der deutsche Dschihadist tatsächlich über die geheimen Pläne der al-Qaida informiert? Was, wenn es keine Anschlagspläne gibt, und Emrah E. nur Angst und Panik schüren will?

Es sprach einiges dafür, den Warnungen des angeblich geläuterten Gotteskriegers keinen Glauben zu schenken. Schon in Deutschland fiel Emrah E. als Prahlhans auf. Die Ermittler bezweifelten, dass er wirklich Einsicht hatte in die Planungsebene der Al-Qaida. Auch die gewaltige Geldsumme, die Emrah für die Informationen verlangte, nährte das Misstrauen der Sicherheitsbehörden.

Andererseits fügten sich die Erzählungen des Emrah E. erschreckend gut ins Gesamtbild der damaligen Sicherheitslage ein. Der US-Geheimdienst CIA hatte den deutschen Kollegen schon Wochen vor den Anrufen von E. mitgeteilt, es gebe Hinweise auf eine Terror-Truppe, die in Pakistan für ihren Einsatz in Europa ausgebildet wurde. Auch die CIA sprach von einer “marokkanischen Zelle”.

Und dann waren da noch die Aussagen zweier deutscher Terrorhäftlinge. Der Deutsch-Syrer Rami Makanesi war im Mai 2010 in Pakistan festgenommen worden. Er hatte im Verhör erzählt, al-Qaida rekrutiere Freiwillige für einen “Europa-Plot”. Al-Qaidas Nr.3, Sheikh Yunis al-Mauritani, habe von Osama Bin Laden persönlich die Erlaubnis für Anschläge auf wirtschaftliche Ziele auch in Deutschland erhalten, so Makanesi. Ähnliches hatte auch der aus Hamburg stammende Dschihadist Ahmad Wali Sidiqqi nach seiner Festnahme im Juli 2010 in Afghanistan berichtet.

War also doch etwas dran an den Geschichten von Emrah E.? Während die deutschen Behörden zögerten, auf das Angebot des Wuppertalers einzugehen, verlief der Kontakt zu ihm immer schleppender. Mehrfach meldete sich Emrah per Telefon, zuletzt am 15. November 2010, dann herrschte Funkstille. Es kam zu keinem Deal mit dem BKA. Die Terrorwarnungen aber wurden zwei Tage nach Emrahs letztem Anruf umgesetzt – letztendlich ausgelöst durch seine Aussagen.

“Was macht Deutschland? Haben sie viel Angst?

In Waziristan verfiel Emrah E. nun in Panik, telefonierte in Todesangst mit der Familie in Deutschland. Jetzt, wo al-Qaidas Terrorpläne durch ihn aufgeflogen waren, gelte er bei den Dschihadisten als Verräter, sagte er. Al-Qaida jage ihn nun, er müsse um sein Leben fürchten und sei in höchster Gefahr. Seine Ehefrau und den kleinen Sohn schickte Emrah E. nach Deutschland zurück. Sie beantragten in der deutschen Botschaft in Islamabad neue Papiere und durften zurückreisen. Emrah aber blieb.

Die deutschen Ermittler verfolgten seine Spuren weiter, hörten Telefonate ab und lasen seine E-Mails mit. Dabei fühlten sie sich zunehmend bestätigt in ihrer Vermutung, der Islamist habe mit seinem Gerede über Terroranschläge in Deutschland nur Angst schüren wollen.

“Was macht Deutschland? Haben die viel Angst?”, fragte Emrah am 5. Dezember 2010 eine Schwägerin in Wuppertal per Telefon. Am nächsten Tag meldete sich Emrah erneut. Diesmal bei seinem Bruder Yusuf. Ihm erzählte er von weiteren Drohnenangriffen, die er nur knapp überlebte. “Ich bin in das Haus gegangen und die Rakete hat bums gemacht und das Haus getroffen”, so Emrah. “Ich habe den deutschen Jungen gefragt , ob er ok ist.”

In Deutschland begannen die Fahnder zur selben Zeit die Kontaktpersonen von Emrah E. ausfindig zu machen. Eine erste Razzia fand im Dezember 2010 in den Wohnungen der Angehörigen statt. Weitere Durchsuchungen erfolgten am 26. Januar 2011 im Zuge von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen acht mutmaßliche Islamisten aus dem Großraum Wuppertal.

Wie durch  Berichte in den Medien bekannt wurde, stand Emrah E. wohl seit Januar in E-Mail-Kontakt mit einen Grünen-Politiker, der Terrorist hatte sich  an den Politiker gewandt. Am 30. Januar erläuterte Emrah E. in einer E-Mail an Ströbele die Details zum Drohnenangriff im Oktober des vergangenen Jahres. E. erzählte dem Politiker, vom Tod seines Bruders. Geweint habe er, als er den toten Bünyamin in den Trümmern der Lehmhütte sah, heißt es in der Mail.

Trotz des offensichtlichen Schocks durch den Tod des Bruders erwecken Emrahs jüngste Lebenszeichen aus Pakistan nicht den Eindruck als wolle er dem Dschihad wirklich abschwören. Er sei mit “20 oder 30 Kämpfern in den Krieg gegangen”, prahlte er. “Die Mudschaheddin sind standhaft und sie fürchten nichts und niemanden”, schrieb er noch im Februar, “Wir besitzen eine Kalaschnikow gegen die Hightech-Waffen der Ungläubigen. Wir schlagen heute die Amerikaner und die Welt!”

Verschwunden in Nairobi

Irgendwann im Februar stieg Emrah E. offenbar in Pakistan in ein Passagierflugzeug und reiste nach Ostafrika. Die Fluggesellschaft wollte zunächst seinen Reisepass überprüfen lassen, erreichte aber keine Kontaktperson beim deutschen Konsulat. So konnte Emrah ungehindert nach Kenia reisen.

Am Flughafen der Hauptstadt Nairobi verschwand der Islamist. Vermutlich reiste Emrah E. weiter über die Grenze nach Somalia. Die al-Qaida nahe Al-Shabaab Miliz heißt dort seit Jahren ausländische Dschihadisten willkommen.

Die Terror-Karriere von Emrah aus Wuppertal scheint also noch lange nicht beendet zu sein. Ob er sich erneut bei deutschen Behörden melden und vor Terror warnen würde, ist allerdings fraglich.

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